Es
war der 25. November. Es war kein besonderer Tag und ich schlief.
Was ich noch nicht wusste: Meinen Computerwecker hatte man bei null
Uhr angehalten und meine Nummer für fakultativen Service existierte
nicht mehr.
Auch
Tanja schlief. Sie war in der Nacht aus ihrem Bett gestiegen und die
paar Schritte barfuß zu mir getapst. Ich hatte ihr wie immer etwas
Beruhigendes entgegengebrummt und sie an mich gezogen. Dass die Luft
da schon auf 15 Grad abgekühlt war, war uns beiden nicht
aufgefallen. Auch der Sauerstoffgehalt war vermutlich erst wenig
abgesunken.
Tanja
war das dritte in meinem Bauch gewachsene Kind. Bei mir war
seinerzeit nur die Leihmutterschaft als Gelderwerb in Betracht
gekommen. Ich vermochte mich immerhin gewählt auszudrücken,
hinterließ einen zuverlässigen und zugleich gebildeten Eindruck. So
hatte meine Arbeit Erfolg versprechend mit der Übergabe zweier
Jungen begonnen. Die vermögenden Auftraggeberfamilien waren mit mir
zufrieden. Die Trockenbaums versprachen sogar, mich später
unsterblich zu machen. Natürlich kamen sie nachher nicht wieder
darauf zurück. Man verspricht ja sehr viel im Moment besonders
großer Freude. Das nächste Baby wurde dann früh als werdendes
Mädchen identifiziert. Das aber hatte der Vertrag ausgeschlossen.
Ich sollte abtreiben. Für Mädchen bedürfe es ja wohl keiner
althergebrachten Schwangerschaft. Ich hatte mich geweigert, war
deshalb für meinen Beruf untragbar geworden und kümmerte lange so
vor mich hin, immer hart an der Grenze, vom Netz genommen,
abgeschaltet, gelöscht zu werden. Wie soll man Vulgärexistenzen wie
mich verwerten? Allein in den illegalen Survivalzonen hätte keiner
danach gefragt. Dort überlebten angeblich einige Outsider ohne
Servicenummer und Chips und all das Zeug, das bewies, dass man –
wenn auch nur für begrenzte Zeit – existierte.
Richtige,
eben unsterbliche Existenz steht nur einer vermögenden Elite zu.
Ihrer von Natur aus mangelhaft konstruierten Körper ledig sehen sich
diese Menschen dann über Neuronennetzanschlüsse permanent durch
nach den eigenen Wünschen ausgestaltete Landschaften laufen. Sie
schmecken die edelsten Speisen, ohne wirklich essen zu müssen und
sie genießen die traumhaftesten Partner – ohne jeden störenden
Ärger. Ansonsten ändert sich nichts. Großrechnersysteme optimieren
alle ihre Lebensfunktionen normalerweise auch schon in der
Vulgärexistenz, nur …
Ich
hätte gern weiter geträumt, aber Tanja stößt mir ihren Ellenbogen
zwischen die Rippen. Etwas stimmt nicht. Irgendetwas ist anders als
sonst. Nur was? Grübeln ist sinnlos. Gerade dann, wenn ich etwas
unbedingt schaffen will, habe ich so eine totale Denkblockade. Ich
komme nicht auf die einfachste Lösung. Da hilft nur, etwas ganz
Anderes zu tun oder denken. Aber wieder einschlafen? … Ob ich es
versuchen sollte?
Ich
blinzele. Tanja hat sich halb aufgedeckt. Ich decke sie zu und
schleiche ins Bad, komme aber nicht dazu, mir in Ruhe die Zähne zu
putzen. Tanja steht in der Tür. Sie hält sich die linke Hand über
die Augen und quäkt “Warum läuft denn gar keine Musik?”
Das
also ist es – das ewige leise Berieseln mit harmonischen Klängen
fehlt. Ich laufe ins Wohnzimmer. Gespenstische Stille, der Monitor
dunkel, kein grünes Signallicht am Tower. Ich drücke halb
verärgert, halb verängstigt den großen schwarzen Knopf. Auf dem
Bildschirm erscheinen drei überdimensionale Ausrufezeichen. Als
hätten sie nur darauf gewartet, dass ich sie anstarre, lösen sie
sich auf. An ihrer Stelle macht sich ein Schriftzug auf dem ganzen
Monitor breit:
“Sie
haben die vorausgegangenen automatischen Warnungen nicht ernst
genommen.”
Tanja
ist hinter mich getreten. “Is was, Mama?”
“Nein, nein.”
Wie,
um mich Lügen zu strafen, kommt die nächste Meldung. “Sie haben
seit sieben Tagen Ihr genehmigtes Limit überschritten. Gleichen Sie
innerhalb der nächsten 72 Stunden Ihr Konto aus! Sollten Sie diese
Chance bis zum 28. November, 0.00 Uhr, missachten, wird auch Ihr
restlicher Nutzercode gelöscht. Alle Schaltfunktionen verbleiben
dann in ihrer jeweiligen Stellung. Ist diese mit einem Verbrauch
verbunden, wird sie auf Null korrigiert. Sie existieren dann nicht
mehr. Die Entsorgung Ihrer Überreste vereinbaren Sie bitte jetzt mit
einer der zuständigen Firmen. Wählen Sie nach Betätigung des
OK-Buttons eine aus!”
Ich
setze mich zitternd auf den Computersessel. Ohne zu überlegen drücke
ich tatsächlich auf OK. Sofort scrollt eine Liste über den
Bildschirm. Ich versuche, den Computer abzuschalten, aber anstatt mir
zu gehorchen setzt er sein Fremdprogramm bei den Ausrufezeichen fort.
Das ist also eine Endlosschleife. Genauer, eine Schleife, die der
Computer bis zum 27. November, 24.00 Uhr, ununterbrochen abarbeiten
wird. Dann kommt die Dunkelheit, eine verschlossene Wohnungstür …
oder eine nicht mehr verschließbare, sollte ich sie zuvor
offengelassen haben. Aber was hätte ich mit dem Offenlassen meiner
Wohnungstür gewonnen, ohne elektronischen Code fürs Haus? Alle
Zähler, Strom, Wasser ... einfach alles wäre für mich
unerreichbar. Ich wäre tot, bevor ich tot wäre. Und Tanja auch.
Beim
zweiten Durchlauf der Schrift beginne ich zu frieren. Ich bin nackt,
so unendlich nackt. Mit starrem Blick renne ich an Tanja vorbei ins
Bad und drehe den Hahn für das heiße Duschwasser bis zum Anschlag.
Die auf mich einprasselnden Schauer röten mir augenblicklich die
Haut. Dampf lässt den Spiegel erblinden. Die Tür geht auf. Tanja
wirft ihr Nachthemd neben die Toilette. Ihr Lachen klingt fern. Bevor
ich mich ihr richtig zugewendet habe, höre ich sie schreien. “Au,
Mama, das kocht ja!” Ich komme wieder zu mir, regele die
Wassertemperatur herunter und beginne, Tanja zu bespritzen. Die lässt
am Waschbecken kaltes Wasser laufen, formt ihre Hände zu einer
Schüssel und zielt auf meinen Bauch. “Treffer!” Ich quieke und
bald sind wir außer Atem …